Eigentlich wollte ich nur zwei O-Ringe für die Ölablassschraube der Gabel meiner betagten BMW GS bei meinem Guzzi-Händler um die Ecke kaufen. Doch dann habe ich mich spontan verliebt. Nein, nicht in die hübsche Verkaufsberaterin, sondern die wunderschöne Moto Guzzi V85 TT Travel in der Farbe Beige Namib hatte es mir angetan und mich gleich um den Finger gewickelt. Das erinnert mich an die Geschichte eines Freundes, der nur mal eben Winterreifen kaufen wollte und mit einem neuen Auto nach Hause kam.
Statt die Gabel meiner GS zu revidieren, recherchierte ich gleich zu der klassisch dezenten Erscheinung aus Italien. Ich war positiv überrascht, denn ich erfuhr nur Gutes über das Italo-Bike. Die kleine Motorradmanufaktur aus Mandello del Lario am Comer See war nie bekannt für Power, Agilität, Verarbeitung und Standfestigkeit. In diesen Segmenten waren immer andere Hersteller die Platzhirsche. Doch hier ist den Ingenieuren von Moto Guzzi etwas ganz besonderes gelungen. Mit dieser Maschine haben sie ein neues Segment im Motorradbau entwickelt. Eine klassische Reiseenduro mit Charakter ohne Allüren wie höher, schneller, weiter, sondern eine Fahrmaschine nach traditioneller Art.
Und mit Tradition kennen sich die Italiener aus. Am 15. März 2021 feierte das Unternehmen seinen 100. Geburtstag. Auch heute noch werden die Motorräder im alten Stammwerk design, konstruiert und zusammengebaut. Somit kann man sagen, dass jede Maschine Custom-made in Europa ist. Welcher Hersteller kann das heute noch von seinen Motorrädern behaupten. Dies macht die Marke für mich sehr sympathisch.
Das ansprechende zeitlose Design der V85 TT-Modellreihe mit seinem anachronistischen Antriebskonzept und Enduromotorrad-Anleihen ist stark an die Modellsprache der 80er Jahre und die erfolgreichen Motorräder der Dakar-Rallye angelehnt—klassisch mit Tank, Seitendeckel und konventionellem Frontfender. Auch die Zylinder mit feinen Kühlrippen sind nicht nur Show. Der V2 steht luftgekühlt im Fahrtwind. Das Kürzel TT in der Modellbezeichnung steht für “Tutto Terreno” (übersetzt: jedes Terrain). Heutige Motorräder haben eher futuristische Designzüge, bei denen diese Elemente auf wunderbarer Weise miteinander verschmelzen.
Ich zähle mich noch zu den Motorradfahrern alter Schule. Meine BMW fahre ich als Erstbesitzer bereits seit 1993. Unzufrieden war ich eigentlich nie. Sie ist eine zuverlässige Begleiterin, die einen bis ans Ende der Welt bringt und auch wieder nach Hause. Ausgestattet mit simpler, überschaubarer und wartungsfreundlicher Technik und dem Charakter eines Traktors.
Aber die Zeit bleibt nicht stehen. Viele Jahre habe ich schon den Wunsch wieder etwas Neues zu fahren. Habe auch zahlreiche Probefahrten gemacht, um dann festzustellen—emotional bringt mich das alles nicht weiter—bis zum heutigen Tag.
Nach einer ausgiebigen Probefahrt mit der Guzzi war klar—die muss ich haben. Neben der tollen Erscheinung mit viel Emotion, bringt das Motorrad auch harte Fakten mit.
Die Modellreihe V85 TT erschien erstmals im Frühjahr 2019. Der komplett überarbeitete luftgekühlte, längsverbaute 90-Grad V2-Motor (erstmalig im April 2006 in der Breva und Griso mit 850 ccm angeboten) leistet in der nochmals optimierten 2021-Version gesunde 76 PS aus 853 ccm bei 7500 Umdrehungen. Das maximale Drehmoment von 82 Nm liegt bei 5000 Touren an. In der jetzt vorliegenden Euro 5 konformen Version wurde das Drehmoment und die Leistungsentfaltung im unteren und mittleren Drehzahlbereich noch einmal optimiert. Seien wir mal ehrlich: Mehr Leistung braucht es nicht, um mit einer Reiseenduro auf Tour zu gehen.
KTM und BMW gehen hier einen anderen Weg. READY TO RACE heißt es bei den Österreichern. An der KTM 1290 Super Adventure S reißen 160 PS an der Antriebskette. Bei dieser Leistungsentfaltung fällt es mir schwer, in einen Flow zu kommen und die vorbeiziehende Landschaft zu genießen. Wie sagt man unter Reisemotorradfahrern: Der Weg ist das Ziel. Wenn ich jedoch schnell ankomme, habe ich nur komprimierten Fahrspaß unterwegs erlebt. Meine betagte BMW GS bescherte mir über 27 Jahre tolle Momente und das mit nur 60 Pferdestärken aus 1000 ccm Hubraum. Besonders sympathisch an der Guzzi finde ich das anachronistische Antriebskonzept mit luftgekühltem Motor und Kardanantrieb, das in dem Segment der Mittelklasse-Reiseenduros ein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Mit dieser Art der Antriebsübertragung hat Moto Guzzi schon lange Erfahrung sammeln können. Kettenpflege ade.
Die Travel steht auf wunderschönen mattschwarzen Felgen mit außen eingeflochtenen Speichen. Dies ermöglicht schlauchlose Reifen in den Dimensionen 110/80 R19 vorne und 150/70 R17 hinten. Die montierten Michelin Anakee Adventure passen hervorragend auf ein Tourenbike mit Offroad-Ambitionen.
Reisefertig bringt es der Brummer auf 243 Kilogramm. Darin enthalten sind auch schon 23 Liter Sprit, der im Travel-Pack dazugehörige Koffersatz mit Anbauträger, Heizgriffe, großes Windschild, Unterfahrschutz, Handprotektoren (etwas zu klein!), Tempomat und eine sehr nützliche USB-Steckdose direkt im Cockpit. Etwas gewöhnungsbedürftig mutet das digitale Farb-TFT-Display an. Hier stünden der klassischen Reiseenduro mit ihren beiden runden LED-Scheinwerfern analoge Anzeigen mit kombinierten Digitalanzeigen besser zu Gesicht. Sei es drum. Sicherlich ist dieses Feature ein Ergebnis der Zusammenarbeit mit dem Piaggio-Konzern (seit 30. Dezember 2004) und soll die Brücke ins digitale Zeitalter schlagen. Zur Digitalisierung trägt auch der Tempomat bei, der per Ride-by-Wire die Gasbefehle übermittelt. Nach dem Feintuning der überarbeiteten Klassik-Reiseenduro 2021, stehen nun fünf statt drei Fahrmodi zur Verfügung: Street, Rain, Offroad, Sport und ein Custom Mode. Letzterer erlaubt die Individualisierung der Parameter ABS, Drehmoment und Schlupf.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch die Guzzi-eigene Multimedia-Plattform MIA. Mittels des optional erhältlichen Tool (Dongle) verbindet sich das Smartphone mit der entsprechenden App im Motorrad. Via Bluetooth erhält man statistische Informationen über Fahrstecken, Fahrtzeiten und Verbrauch. Auch eine Sprachsteuerung soll so funktionieren. Bedient wird die App über die rechte Lenkerarmatur. Das funktioniert sogar ausgesprochen zuverlässig. Die Navi-Funktion setzt ein Smartphone voraus. Die Fahrtdaten und Navigationshinweise werden per Pfeilsymbole im Display angezeigt. Eine Straßenkarte gibt es hier jedoch nicht. Für die Streckennavigation zu einem Ziel ist diese Art der Wegführung jedoch völlig ausreichend. Wem dies nicht reicht, der kann sein Smartphone oder Navi auch am konifizierten Lenker befestigen und sich den Strom direkt aus der USB-Streckdose im Cockpit holen. Moto Guzzi steht zwar mit dem Thema Multimedia am Motorrad noch am Anfang, aber ich denke, in Zukunft werden weitere Updates eingespielt.
Die beiden 320 mm Bremsscheiben an der progressiven 41 mm Upside-Down Gabel, werden wirkungsvoll durch radial montierte Brembo-Bremssättel und dem 2-Kanal-ABS von Continental unterstützt. Am Hinterlauf arbeitet eine Doppelkolben-Festsattelzange an einer 260 mm Scheibe. Diese Kombi sorgen in alle Fahrzuständen für ausreichende Verzögerung. Großes Lob verdient die Retro-Enduro für ihr ausgewogenes und ebenso handliches wie stabiles und neutrales Fahrverhalten. Das Fahrwerk mit seinen volleinstellbaren Komponenten dürfte auch mit professioneller Unterstützung aus dem Hause Piaggio entwickelt worden sein. Die Fahrwerksspezialisten von Aprilia hatten sicherlich Kopf und Hände im Spiel. Bei älteren Modellen aus den Hause Moto Guzzi waren die Fahreindrücke eher fragwürdig. Hier gibt es nichts zu mäkeln. Im Gegenteil, die Dämpfer arbeiten auf meiner Hausstrecke ansprechend und zuverlässig bei allen Gangarten auf hohem Niveau. Die Front- und Heckdämpfer besitzen jeweils 170 mm Federweg. Ausflüge auf kurvenreichen Landstraßen im Mittelgebirge und bei schnelleren Etappen auf der Autobahn erlebte ich entspannt und komfortabel. Erst über 150 Stundenkilometer kommt etwas Unruhe ins Fahrwerk. Dies lässt sich aber zuverlässig mit Erhöhung des Reifendrucks und angepassten Dämpfereinstellungen wieder beruhigen. Lediglich die Tourenscheibe lässt ab einer Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometer an Wirkung nach. Gerade mit einem Endurohelm mit Schirm rupft es ordentlich am Helm. Aber das kann bei kleinen Fahrern und Integralhelm wieder anderes aussehen. Bei meinem kurzen Offroad-Einsatz auf trockener Schotterpiste und losem Geläuf, waren sowohl das Fahrwerk als auch die Reifen unbeeindruckt. Für die meisten Piloten sollte die Offroad-Performance der Mittelklasseenduro ausreichen.
Das im Travel-Pack inklusive schwarze Kunststoff-Kofferset mit silbernen Applikationen und stylischem Moto Guzzi-Schriftzug sieht wertig aus und weiß zu gefallen. Der linke Koffer umschließt den schlanken Schalldämpfer, sodass die Fuhre nicht zu breit baut. In 27 und 37 Liter-Koffern ist das Reisegepäck trocken verpackt. Erfreulich ist auch der Umstand, dass beide Koffer mit dem Zündschüssel schließen, was die Schlüsselsuche auf ein Minimum reduziert. moto guzzi v85 tt travel tasche
Hier noch ein Wort zum hochgelegten ovalen Auspuff. Auch hier ist die Verarbeitungsqualität auf ansprechendem Niveau, wie an anderen Stellen des Bikes. Die Sound-Kulisse des mattschwarzen Endtopfes klingt dezent, dabei aber durchaus bassig und mit schönem V2-Sound. Das ist weder krawallig noch störend für die Umwelt und empfindliche Gemüter.
Das großvolumige Spritfass und der moderate Durst des V2 erlauben Reichweiten von über 450 km. Bei genügsamer Fahrweise, reduziert sich der Spritverbrauch auf Werte knapp über 4 Liter auf 100 km. Respekt!
Gefallen findet auch die sehr gestylte bequeme Sitzbank. Pilot und Sozius finden Halt am mittig platzierten Bürzel mit gesteppten Moto Guzzi-Schriftzug. Die 83 cm Sesselhöhe sollte für die meisten Staturen passen. Wer keine Standard-Teutonen Maße mitbringt, findet im hauseigenen Zubehörprogramm die passende Dimension sowie eine Komfortsitzbank.
In der Vergangenheit mussten Guzzi-Fahrer immer eine Portion Leidensfähigkeit mitbringen. Harley-Biker und Land Rover Defender-Fahrer wissen, wovon ich hier spreche. Doch bei dem Update der aktuellen klassischen Reiseenduro haben die Entwickler aus Mandello del Lario alles richtig gemacht.
Die Designer haben es geschafft eine klassische Reiseenduro auf die Beine zu stellen und diese dabei nicht alt aussehen zu lassen. Technisch ist dieses Bike auf der Höhe der Zeit und mit modernen Features sowie nützlichen Accessoires ausgestattet. Der gelungene Mix aus Retro und klassischem Motorradbau gibt der Italienerin ihren speziellen Charme, dem sicherlich nicht nur ich verfallen sein dürfte. Hier trifft “Heritage” auf “Dolce Vita”.
Wer ein wunderschönes klassisches Bike mit Charakter und dezentem Auftritt zum Reisen und nicht zum Rasen sucht, der sollte sich die betörende Italienerin vom Comer See unbedingt anschauen. Sicherlich wird diese Retro-Enduro viel Zuspruch aus den Reihen der bayrischen Motorradfreunde finden, welche der Seele ihrer alten Liebe, einer luftgekühlten GS mit zwei Ventilen und wartungsarmen Kardan, nachtrauern. Alle anderen, die nur schnell und trocken zum Ziel kommen wollen, sollten sich die Angebote einschlägiger Autohäuser anschauen.
Tutto bene—alles Bestens. Sorry BMW—ich habe mich in eine Italienerin verliebt!
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