Ohne wirklich eine Vorstellung davon zu haben, was mich erwartete, verließ ich Liverpool—Südamerika war immer schon ein Traum von mir gewesen. Ankunft in Santiago: Die Taxifahrt vom Flughafen nach Los Condes öffnete mir die Augen. Ich war überrascht, wie europäisch, wie modern die Stadt wirkte. Lediglich die schneebedeckten Gipfel der Anden, die sich hoch und mächtig hinter der großstädtischen Skyline auftürmten, erinnerten mich daran, dass ich mich ganz und gar nicht in Europa befand.
Dies war Tag 1 meiner dreimonatigen Abenteuerreise durch Südamerika. Die Planung sah vor, dass ich “Hugo”, meinen neuen mexikanischen Amigo, bei der Hauptgeschäftsstelle von Triumph Motorcycle in Los Condes treffen würde, um zwei brandneue Triumph Tiger Adventure-Motorräder in Empfang zu nehmen. Fertig ausgestattet mit seitlichen Gepäckkoffern, fetten Reifen und Garmin GPS sahen sie erstaunlich attraktiv, strapazierfähig und zu allem bereit aus.
Die britische Kultmarke Triumph Motorcycles wird schon von je her mit allem, was “cool” ist, assoziiert. Von Marlon Brando und James Dean bis Steve McQueen und neuerdings auch David Beckham lässt sich die Liste der prominenten, als chic geltenden Fahrer endlos fortsetzen. Es war ein Privileg, dazu zu gehören. Ich stellte mir Che Guevara vor, wie er seine Motorcycle Diaries (dt. Die Reise des jungen Che) schrieb…wäre dies meine Chance, auch “cool” zu sein?
Unterdessen, zurück in der Realität, planten Hugo und ich nach Westen zur Küste aufzubrechen, und dann weiter nach Norden zur Küstenstadt Taltal zu fahren. Von dort aus würden wir Iquique und San Pedro de Atacama besuchen—und über die Grenze nach Purmamarca in Argentinien. Weiter im Norden sollten wir bei Villazón die Grenze zu Bolivien überqueren und dort berühmte Touristenziele wie Uyuni, Potosi und natürlich die höchste Stadt der Welt, La Paz, erleben. Von Bolivien ginge es nach Peru an den Titicacasee zu den schwimmenden Schilfrohrinseln der Uros, den sagenumwobenen Nazca-Linien und zum Schluss nach Lima an der wunderschönen Pazifikküste. Und der Haken? Einen Monat lang würde ich diese Strecke als Vor-Tour fahren—dann flögen zwei Gruppen von Motorradfahrern aus allen Ecken des Globus ein und mir stünden zwei weitere Monate auf derselben Route bevor! Ja, ich sollte die beiden Gruppen führen—gemeinsam mit einem renommierten Reiseveranstalter, Compass Expeditions, für Motorradabenteuer in Südamerika. Also: Notizbuch und Kamera im Anschlag konnte das 15.000 km Abenteuer beginnen.
Das Schöne am Motorradfahren? Du wirst eins mit der Umwelt. Nicht eingesperrt in einer Blechkiste mit Klimaanlage, Sitzheizung und elektrischen Fensterhebern; stattdessen spürst du den Wind im Haar und hast den Geruch von Freiheit in der Nase. Selbst die Einheimischen nehmen dich anders wahr. Wie es scheint, wirst du eher akzeptiert, und das macht die Erfahrung so real, so ungetrübt. Stell dir vor, du fährst mit dem Auto entlang der chilenischen Pazifikküste und betrachtest durch die Fensterscheiben, wie die blaue Brandung sich an der Küste bricht. Dann male dir aus: Du sitzt auf deinem Motorrad, die Seeluft peitscht dir ins Gesicht, der Geschmack von Salz auf den Lippen, der Motor unter dir summt—du bist kein bloßer Beobachter mehr, du gehörst dazu, bist eins mit deiner Umwelt. Hinter jeder Kurve wartet ein neues Abenteuer.
Natürlich passieren Abenteuer auch abseits der Straße. Am zweiten Tag erwachte ich in einem billigen Hotel nahe dem Strand von Taltal. Draußen ertönten laute Sirenen. Schlaftrunken stolperte ich hinaus auf die Straße, wo ich beinahe von einem Polizeiwagen erfasst worden wäre—gefolgt von einem Rettungswagen, der Feuerwehr und der Seenotrettung. Das Echo der Sirenen hallte durch das enge Straßennetz. In gebrochenem Spanish fragte ich eine Passantin: “Was ist los?” Ihre Antwort ließ meinen Adrenalinspiegel steigen: “Das ist der Tsunami-Alarm.”
Schreiend rannte ich zurück ins Hotel, um Hugo zu wecken: “Steh auf, wir müssen irgendwo hoch auf einen Berg, aber schnell—ein Tsunami kommt—Komm schon! Beeil dich!” Hugo hüpfte durchs Zimmer, ein Bein in der Jeans, mit dem anderen versuchte er, seinen Stiefel anzuziehen! Motorradfahren lehrt dich, mit wenig Gepäck auszukommen—eine Kunst für sich—und fünf Minuten später versuchte ich, den Schlüssel in die Zündung zu stecken. Hugo hatte die Stiefel falsch herum an und suchte den Horizont nervös nach einer Anhöhe ab. Derweil der Hotelmanager im Liegestuhl saß, Zeitung las und bei ohrenbetäubendem Sirenengeheul seelenruhig an seinem Cappuccino nippte.
“Vergesst nicht, eure Rechnung zu bezahlen, Jungs,” meinte er. “Ihr könnt an der Rezeption bezahlen, sobald diese Tsunami-Übung beendet ist.” Hoppla—mein Spanisch war wohl lückenhaft, hoffentlich konnte ich es unterwegs aufbessern.
San Pedro de Atacama war für mich eine erste Kostprobe des ländlichen Südamerikas—mit Wüste, Salzseen und Vulkanen. Das Lehmziegeldorf in der Oase wirkt sehr idyllisch und scheint trotz des Trubels in der Touristen-Hochsaison seine sanfte Ruhe und Freundlichkeit zu bewahren. Hier ist die Zeit der ewigen Hippies stehen geblieben. Wer Urlaub mit Dreadlocks, Creolen und langen, blumigen Röcken mag, ist in San Pedro gut aufgehoben.
In dieser kleinen Wüstenstadt kann man auch erste Erfahrungen mit den allgegenwärtigen peruanischen Panflöten machen: Ob Hotellobby, Restaurant oder Sanitäranlage—der Klang von “El Cóndor Pasa” folgt dir überall hin. In 1913 hatte der Peruaner Daniel Alomía Robles das Stück ursprünglich für Orchester geschrieben; jedoch errang es Weltruhm, als Simon & Garfunkel es 1970 auf ihrem Album Bridge over Troubled Water veröffentlichten. Mittlerweile hat es Kultstatus, diese Melodie nehmen Touristen aus Peru mit nach Hause—fest in ihrem musikalischen Gedächtnis verhaftet.
Die umliegende Landschaft ist gleichsam wunderschön und magisch; hier finden sich einige der größten Geysire und Salzseen der Welt. Die gigantischen Felsformationen des Valle de la Muerte (auch “Das Marstal” genannt) sind wahrlich atemberaubend; und einen Dämmerschoppen bei Sonnenuntergang in der surrealen Mondlandschaft von Valle de la Luna (”Tal des Mondes”) darf man sich nicht entgehen lassen. Im Nachhinein denke ich, wir hätten mehr Zeit hier in dieser erstaunlichen Gegend einplanen sollen—es gibt so unglaublich viel zu entdecken hier, dass ich definitiv dorthin zurückkehren werde.
Wir durchquerten Bolivien mit den Zielen Uyuni und Potosi; dort wollten wir “off-road” fahren—ab Tupiza der berühmten Rallye Dakar-Route folgen. Die Rallye Dakar ist das ultimative Langstreckenrennen im Motorsport. Dementsprechend ist die Strecke technisch ziemlich anspruchsvoll und nicht für jeden Schönwetterfahrer geeignet. Weniger als 250 km in mehr als sieben Stunden—das zeigt vielleicht, wie anspruchsvoll…
Auf einer Etappe fuhren wir entlang eines Flusses—eigentlich mehr im Fluss. So spritzen und schlitterten wir etwa 40 km weit, bis wir nicht mehr wussten, wo wir waren. Verwirrt und komplett durchnässt hielten wir an. Mit der einbrechenden Dunkelheit drohte auch Gefahr und wir überlegten gerade zurückzufahren, als plötzlich aus dem Nichts ein Bus auftauchte; vorne prangte “Uyuni Express”; grinsend und winkend pressten sich strahlende Gesichter an die Fensterscheiben. Unglaublich! Busfahrer in Bolivien sind ein ganz eigener Menschenschlag.
Spät abends in La Paz ankommen war möglicherweise ein Fehler—im Dunkeln sollte man den Feierabendverkehr tunlichst vermeiden, die fuhren wie die Wahnsinnigen! Aus meiner Erfahrung kann ich behaupten, dass der Verkehr nirgendwo so verrückt ist wie in Südamerika—insbesondere in La Paz. Schlimmer als in Marrakesch, Paris oder Johannesburg. Trotzdem funktioniert es, auf der ganzen Reise hab ich kaum einen Unfall gesehen. Es ist erstaunlich, wie schnell man sich anpasst und mit dem Motorrad hat man einen großen Vorteil: Man kann einfach zwischen den Autos hindurch an den Anfang der Schlange fahren.
Kulturfreaks, die wir sind, hatten wir uns entschlossen, die Bikes in den Büros von Compass Expeditions in El Alto—der Stadt oberhalb von La Paz—abzustellen und mit der berüchtigten Drahtseilbahn hinunter in unser Hotel zu fahren. Spektakulär! Was für ein Erlebnis—vor allem bei Nacht, wenn vor dir in ganz La Paz die Lichter angehen. Mehr schon eine Disney-Attraktion als öffentliches Verkehrsmittel. Denn die Seilbahn fällt praktisch von der ersten Plattform direkt in den Abgrund hinunter. Das dreht einem den Magen um, ein Gefühl irgendwo zwischen schrecklicher Angst und Spannung pur.
Am nächsten Tag saßen wir wieder auf unseren Maschinen auf dem Weg nach El Camino de la Muerte—oder wie wir sagen “die Todesstraße”. Menschen aus aller Welt suchen hier den Nervenkitzel, das anrüchige Stück Bergstraße, wo bereits ein Fehler dich dein Leben kosten kann, 900 m ungebremst den steilen Abhang hinunter. Noch vor wenigen Jahren starben hier jedes Jahr 250 Menschen…auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit. Heute gibt es eine asphaltierte Umgehungsstraße; die “Todesstraße” ist nur noch Touristenattraktion. Jeder will sie fahren, ob Motorradfahrer oder Mountainbiker. Auf mehr als 4.500 m Höhe über dem Meeresspiegel darf angesichts der fast senkrechten Felswände kein Fehler unterlaufen. Wenn du überlebst, bist du um eine spektakuläre Erfahrung reicher. Jeder, der sich die Todesstraße auf seine “Bucket List” für Südamerika geschrieben hat, sollte damit vielleicht bis zuletzt warten.
Eine kleine negative Anmerkung am Rande: Grenzübertritte können schon eine Herausforderung darstellen. Manchmal wird man das Gefühl nicht los, dass die Regierungen aller Länder hier sich gegen dich verschworen haben. Komplizierte Vorschriften, die sich täglich zu ändern scheinen, können erhebliche Frustrationen verursachen. Und ein gewisses Ausmaß an Korruption lässt die Komplexität noch verwirrender erscheinen und hinterlässt einfach einen schlechten Beigeschmack. Für die vielen Verzögerungen wirst du jedoch auf der anderen Seite der Grenze jeweils mit dem Anblick der eindrucksvollsten Landschaften dieser Welt belohnt.
Nach der Ankunft in Peru fuhren wir nach Puno, um dem Titicacasee und den Islas Uros, den schwimmenden Inseln der Uros, einen Besuch abzustatten. Die Inseln sind heutzutage ein wichtiger Touristenmagnet—leider, kann ich nur sagen, denn es wirkt alles etwas übertrieben und hat an Authentizität verloren. Ich wünschte, ich wäre früher hier gewesen, als ich noch jung und naiv war. Aber Puno ist ein großartiger kleiner Ort, auf den Straßenmärkten geht es zu wie im Bienenstock und der historische Stadtplatz ist sehenswert.
Peru hat dem Abenteurer viel zu bieten, obwohl den meisten Europäern gar nicht bewusst ist, dass 60 % des Landes Amazonas-Regenwald sind. Also nahmen wir einen Billigflieger von Cusco nach Puerto Maldonado, dem Tor zum Amazonas. Die Bootsfahrt den Tambopata-Fluss hinauf brachte uns in den dichten Regenwald, wo wir in einer malerischen Öko-Lodge namens “Posada Amazonas” übernachteten. Zwei Tage verbrachten wir hier und erkundeten die Wildnis—überreich mit unendlich vielen Vogelarten und Horden von rabiaten Affen, die in den Baumkronen herumtollten, sowie ein Wasserschwein (capybara) und ein angsteinflössender Kaiman, der am Flussufer lungerte. Es war eine nette Abwechslung vom ständigen Fahren im Sattel und eine wirklich anregende Art, die Wunder und Schönheit des Amazonas kennenzulernen.
Cusco, die Hauptstadt des alten Inkareichs, ist sehr geschichtsträchtig; die antiken Inka-Fundamente spiegeln die einstige Herrlichkeit und koloniale Architektur wider. Straßen und Plätze zieren aufwendig geschnitzte Balkone aus Holz und alternde Ausgrabungsstätten. Von hier aus folgten wir der kurvenreichen Strecke durch das atemberaubende Heilige Tal der Inkas, dem Urubamba-Tal, bis nach Ollantaytambo. Hier wimmelt es nur so von Rucksacktouristen und Reisenden aus aller Herren Länder, denn hier fährt der Zug nach Machu Picchu ab, der geheimnisumwitterten Krönung des ganzen Abenteuers.
Im höchsten Maße erstaunlich und leicht verwirrend ist diese verlorene Stadt, diese himmlische Enklave des Inkareichs. Erbaut in 2.400 m Höhe auf schneebedeckten Gipfeln macht Machu Picchu der Ingenieurskunst, Konzeption und Entschlossenheit der Inkas alle Ehre: welch wundersame Stadt auf dem Dach der Welt.
Paläste, Tempel, Plätze und Häuser aus Stein sind durch Terrassen mit fortschrittlichen Bewässerungssystemen verbunden. Es ist keine Überraschung, warum es als Weltkulturerbe gelistet ist. Das berühmte schwere Mauerwerk stellt uns immer noch vor Rätsel: Wie hatte man die riesigen massiven Steinblöcke, die so perfekt ineinander passen, nur ohne eisernes Werkzeug oder Räder hier herauf geschafft? Die Fugen sind immer noch so dicht wie vor Hunderten von Jahren. Viele Geheimnisse ranken sich um diese Stadt: Warum wurde sie im 16. Jahrhundert verlassen? Und warum wurde ausgerechnet hier gebaut? Die Verflechtung der Stadt mit dem Lauf der Sonne und den astrologischen Zyklen ist faszinierend; Felsen, Fensteröffnungen und sogar Berge sind im Hinblick auf Himmelsereignisse am kosmischen Kalender ausgerichtet.
Auf dem Weg zurück nach Lima haben wir noch ein Mysterium hinzugefügt und einen Abstecher zu den Nazca-Linien gemacht. Wir überflogen die Scharrbilder mit einem Leichtflugzeug. Der Trip war fesselnd und hat viel Spaß gemacht. Von oben hat man einen beeindruckenden Blick auf die Bilder und bizarren Linien; und der Pilot, gleichzeitig Fremdenführer, vervollständigt das Bild mit interessanten Hintergrundinformationen. In jener Nacht lag ich im Bett und meine Gedanken kreisten um all die unbeantworteten Fragen über Nazca und Machu Picchu.
Die Tatsache, dass wir immer noch nicht alle Antworten kennen, erhöht nur den Reiz dieser unglaublich spannenden Welt, in der wir leben—für mich ist dies eine Inspiration, weiterhin so viel wie möglich davon zu erkunden.
Und meine motorradfahrenden Leser fragen sich vielleicht: “Hey, Billy, genug Geschichte und Geheimnisse, wie waren denn die Straßen?” Aber ihr kennt die Antwort doch bereits—sie waren unglaublich, fantastisch und wirklich genial! Ob Asphalt oder Schotter, bessere Straßen findest du nirgends. Nach einer solchen Tour bist du mit dem Universum versöhnt. Eins mit der Natur fliegst du wie der Kondor, jene majestätische Kreatur, der Freiheit entgegen.
Die Einwohner Südamerikas sind mit Glück gesegnet, denn sie haben all das direkt vor ihrer Haustür. Also schwingt euch in den Sattel und nichts wie los!
Jetzt die beiden anderen Gruppen abholen und das Ganze noch einmal von vorn beginnen!
Dieser Artikel wurde erstmals in der Winterausgabe 2016 des Overland Journal Europe veröffentlicht.