Vergnügungsparks, Motels und kleine Restaurants am Straßenrand gehörten nicht in die Landschaft meiner Kindheit. Die Wildnis von Gila, New Mexico, hatte meine frühesten Erinnerungen geprägt. Unzählige Campingausflüge mit meinem Vater und meiner Schwester begannen immer mit dem gleichen Ritual: Er kam früher von der Arbeit nach Hause, gemeinsam luden wir die sperrige Eisbox in den Ford Bronco, vollgepackt mit Lebensmitteln, Cola und 40 kg Eis, und dann fuhren wir los. Kurz vor Sonnenuntergang verließen wir die Straße und Hagar, unser weißer Schäferhund, fing an zu winseln. Er wollte rausgelassen werden und die Strecke zu unserem Camp am Ufer des Rio Mimbres laufen. Der Weg war holprig; zu essen gab es meistens kalten Aufschnitt und Hot Dogs.
Schon bei Tagesanbruch spielte ich am Fluss, schnitzte kleine Boote, welche mir die Strömung entriss, und balancierte die mächtigen Pappelstämme entlang, die im Wasser lagen. In die Stämme waren Worte geritzt: unaussprechliche Dinge, die kein Mensch ausspricht; Namen von Liebenden; Jahreszahlen, die bis zur Weltwirtschaftskrise zurückreichten. Im Schein der Lampe folgte ich mit dem Finger auf einer zerfledderten Landkarte den Höhen und Tiefen von Gila. Abends im Bett verschlang ich billige Western und ließ meine Fantasie schweifen. Besonders hatte es mir die Geschichte eines 16-Jährigen angetan, Henry McCarthy, der für den Diebstahl von zwei Pfund Butter und 70 Dollar in Silver City ins Gefängnis kam. Noch bevor er seine Strafe abgesessen hatte, entkam er durch einen Kamin und floh in die Berge. Jahre später machte er sich einen Namen als Billy the Kid.
Gila ist reich an Geschichte und Legenden. Im Jahre 1540 leitete der spanische Seefahrer Hernando de Alarcón eine Floß-Expedition den Colorado hinauf. Er wollte den Pazifik auf dem Wasserweg erreichen. Ein Teil seiner Mission war die Kartografie unerforschter Gebiete, um einem spanischen Conquistador den Weg ebnen. Alarcón entdeckte einen kleineren Nebenfluss des Colorado, den er Rio Miraflores taufte. Er war einer der ersten Europäer, die das Gebiet, das wir heute Gila River nennen, zu Gesicht bekamen.




BANDITEN UND HOBBY-GÄRTNER
Im Spätfrühling, nach dem letzten Schneesturm, traf sich eine Gruppe von Abenteurern, um von Silver City in New Mexico aus in sechs Tagen die Gila Legends Route zu fahren. Als Guide der Tour hatte ich große Teile der Strecke bereits Wochen zuvor ausgekundschaftet: Baumhindernisse beseitigt, Lagerplätze ausfindig gemacht und geprüft, welche Nebenstraßen befahrbar waren. Alle Teilnehmer sollten die nötige Befähigung, Ausrüstung und Proviant für diesen Trip besitzen, um jeweils drei Tage und ca. 300 km bis zum nächsten Tankstopp autark zu überstehen. Dort kämen wir dann auch wieder an Nachschub. Weinproben, Bison-Streichelzoos und Hüttenübernachtungen standen nicht auf dem Programm. Die Route endete in Truth or Consequences, einer Kleinstadt in New Mexico, und führte durch Wüsten, Grasland, Unterholz, wasserführende Canyons und dichte Wälder.
Im Fahrzeugpool befanden sich auch ein AEV Brute Jeep Wrangler mit Doppelkabine und ein Ram Power Wagon Prospector. Der Ram war der größte Truck, den ich durch die extrem engen, technisch anspruchsvollen Schikanen der Gila-Nebenstrecken lotsen konnte. Kent Klein, der Fahrer, sah der Herausforderung gelassen entgegen, hielt aber für alle Fälle eine scharfe KatanaBoy-Säge bereit. Frontmann war Chris Wood im AEV, seines Zeichens Geländeprofi und Ausbilder mit über 30 Jahren Erfahrung. Kurze Fahrerbesprechung—und schon waren wir unterwegs auf den Spuren von Billy the Kid.


Hinter Mimbres und San Lorenzo verließen wir den Asphalt. Etwas weiter die von Steinschlag und abgestorbenen Ästen übersäte Piste hinauf wurden wir von wilden Mustangs und Maultieren begrüßt, die uns neugierig umkreisten, um dann im gestreckten Galopp in einem Seitencanyon zu verschwinden. Hier kannte ich mich aus: Ich lockte meine Gruppe zu Fuß hinein. Steve, ein Gesetzeshüter aus Kalifornien, betrat den schmalen Korridor, behielt mich aber misstrauisch im Blick—gerade so als ob er einen Überfall erwarte. Die vielen Einschusslöcher und Inschriften in den Felsen erinnerten an all die Halsabschneider, Pelzjäger und Apachen, die vor uns hier Unterschlupf gesucht hatten. Nur mit einem Seil bewaffnet, konnten Schurken auf der Flucht ihren Verfolgern die Felswände hinauf und in die Berge entkommen.
Während wir zwei einfachen Spurrillen vom Mimbres-Fluss zur nordamerikanischen Wasserscheide schnurgerade hinauf folgten, meldete über Funk eine Stimme mit starkem Detroit-Akzent: “Liegengeblieben! Warnlampe für die Öltemperatur brennt!” Im Rückspiegel sah ich Jims geöffnete Motorhaube—sein Getriebeöl war heißgelaufen. In der Hitze, die der Motorblock des Jeep abstrahlte, flimmerte der Anblick der Schlucht unter uns. Also stieg ich aus, verkeilte die Räder und machte mich an den Abstieg. Trotz der Steillage war Warten, bis die Kühlflüssigkeit bei laufendem Motor herunterkühlte, die einzige Lösung.
Ich nutzte die Zeit, um mich umzusehen. Wie eine Fata Morgana zitterte die silbrige Linie des Rio Mimbres in der Hitze, ein Anblick, der mich an meine Kindheit erinnerte. Lichtstrahlen brachen durch die Wolken und strahlten einzelne Punkte in den Tälern an—bis zu den Bergkämmen von Black Range, McKnight, Reeds und Hillsboro. Am südlichen Horizont erschien die Sierra Madre wie eine Inselkette am Himmel über der Chihuahua-Wüste—einstmals ein prähistorischer Ozean.
Unser zweiter Versuch des Aufstiegs endete nur wenige hundert Meter später, da Kent begann, sich als Hobbygärtner zu betätigen. Sein Ram meisterte den felsigen Abhang zwar mit Leichtigkeit, aber überlange Äste drohten seinen kostbar glänzenden, orangefarbenen Lack zu verkratzen: Also stutzte er sie. Der Pfad zum Lagerplatz am Black Canyon Creek folgte der Wasserscheide und einem Teil des Great Divide Expedition Trail. Letzterer führt rittlings über einen schmalen Streifen befahrbaren Landes entlang der Grenze zum weltweit ersten Naturschutzgebiet: Gila—heute bekannt als Aldo Leopold.
WOLFSBAU UND EINSAME RANCHER
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Bär-, Wolfs- und Biberbestand, ebenso wie der Baumbestand in großen Arealen der Gila-Region, dank allzu ehrgeiziger Grenzbewohner und Unternehmer, bereits stark dezimiert. Damals begann ein junger Forstwissenschaftler namens Aldo Leopold seine Karriere beim US-Forstamt. Zu seinen Aufgaben gehörte die Kontrolle des Raubtierbestandes in New Mexico und Arizona. Eines Tages—dieser Tag sollte in die Geschichte eingehen—erlegte Leopold einen Wolf. Es war eine Wolfsmutter, die ihre Jungen gerade erst durch die rasche Strömung auf die andere Seite des Flusses gebracht hatte.
Als wir die Wölfin erreichten, konnten wir sehen, wie das strahlend grüne Feuer in ihren Augen erlosch. Da erkannte ich, und dieses Bewusstsein sollte mich nie mehr verlassen, etwas Uraltes in ihren Augen—etwas, das nur ihr und dem Berg eigen war. Ich war jung und schießwütig; ich dachte, weniger Wölfe bedeutet mehr Rotwild— keine Wölfe ein Paradies für Jäger. Als aber das grüne Feuer erstarb, wusste ich plötzlich, dass weder Wolf noch Berg diese Gedanken gutheißen. –Aldo Leopold, A Sand County Almanac: And Sketches Here and There, 1949.
Später bezeichnete Leopold selbst diesen Moment als Wendepunkt in seinem Leben. Dieser Schlüsselmoment änderte seine Wahrnehmung der Natur. Er setzte sich als einer der ersten dafür ein, unberührte Areale in öffentlicher Hand zu schützen und für die Nachwelt zu erhalten—gänzlich frei von menschlichen Eingriffe.



Die ersten Sonnenstrahlen des Tages trugen den erquickenden Duft von Pinien und feuchter Erde in den Canyon. Die einsetzende Wärme ließ Dampf aus dem Gras aufsteigen und trug ihn in das Gewirr aus Baumkronen darüber. An den schlammigen Ufern des Black Canyon Creek rührten sich Vögel: Auf der Jagd nach Insekten klang laut ihr Gesang zu uns herüber. Nach dem Kaffeeaufbrühen und Verstauen der Vorräte kletterten wir die Serpentinen zur North Star Road im Herzen der Black Range-Berge hinauf. Gelegentlich trifft man Passanten—keine schwer beladenen Geländewagen, sondern einsame Rancher, Rucksacktouristen oder Männer des Gesetzes.
In der Nähe von Whitetail Canyon trafen wir auf einen neugierigen Grundbesitzer. Sein Toyota Pickup zog eine Staubwolke hinter sich her. Wild gestikulierend bedeutete er mir näher zu kommen— was ich widerwillig tat. In der Kabine seines Toyota lag Munition auf dem Beifahrersitz und ein Gewehr lehnte an der Mittelkonsole. Meine Angespanntheit ließ etwas nach, als er “Hallo!” brüllte und fragte, wohin wir fuhren. Dann legte er los: Er sprach von Weiderechten, ungewöhnlichen Wetterphänomenen, dem Abschuss eines Wolfes vom FBI unlängst, und wie er Touristen (wie uns) schnell wieder auf den Weg zurück half. Zum Abschied propagierte er seine Treffsicherheit, indem er einen Leitpfosten, knapp 300 m entfernt, anpeilte.
Das Land zwischen Black Range, der Ebene von San Agustin und den Mogollon-Bergen besteht aus hochgelegenem Busch- und Heideland, Savannen (goldene Grassteppen und Wacholder) sowie einem parkähnlichen Kiefernwald. Unser Weg nach Westen zur Mogollon Range führte uns durch Beaverhead, Wolf Hollow, T Bar Ridge, Loco Mountain and Snow Lake. Hier weidet der größte Elchbestand New Mexicos—und lockt Räuber an: den mexikanischen Grauwolf. In den 70er Jahren nahezu ausgestorben, fing man im Norden Mexikos fünf Grauwölfe ein und züchtete sie in Gefangenschaft. Im Jahre 1998 wurden elf in einem Gebiet ausgewildert, zu dem auch der Gila National Forest gehört. Die Mühe zahlte sich aus, denn der Bestand ist bis 2010 auf 50 Tiere angewachsen, so die US Fish and Wildlife-Behörde, und hat 2015 die ermutigende Stückzahl von 109 erreicht.
FEUER IM HOCHLAND
Frühmorgens herrschte Katerstimmung im Loco Mountain Camp. Denn bei nächtlichen Minustemperaturen und Wolfsgeheul war der Schlaf zu kurz gekommen. Mein Ziel war es, den Konvoi über die schneebedeckten Gipfel der Mogollons und dann hinunter ins Reservat zu lenken. Das Gila-Hochland prägen zwei Extreme: dichtes Waldland und die Brandnarben eines postapokalyptischen Lauffeuers. Aus der Ferne erinnern die übrig gebliebenen kahlen Stämme an Bleistiftspitzen, die aus dem Boden ragen; während die spärliche grüne Vegetation, die sich wie Adern durch die verletzte Flur zieht, den Weg erkennen lässt, den das Feuer genommen hat. Nach solch einem Brand finden sich unzählige neue Hindernisse auf den Pisten. Jedes leise Lüftchen oder zarter Nieselregen kann die verkohlten Bäume umstürzen. Nach Schneematsch, viel Straßenräumarbeit und einer Schneeballschlacht war die Stimmung heller: Wir näherten uns Corner Mountain, dem höchsten Punkt der Strecke, und genossen die Aussicht auf die San Francisco Mountains und Arizona White Mountains am Horizont—und der majestätischen Elche.

Der Whitewater-Baldy Flächenbrand wurde 2012 von einem Blitzschlag ausgelöst. Er vernichtete 1.200 km2 Waldland—das größte Lauffeuer in der Geschichte New Mexicos. Starke Winde und Trockenheit schürten das Feuer und stellten das Brandbekämpfungs-Team vor eine schier unlösbare Aufgabe. Für eine Fotodokumentation verfolgte ich, wie das Feuer das Land in Schutt und Asche legte, das ich seit meiner Kindheit liebte. Ich werde nie den Anblick einer Elchkuh vergessen, die unmittelbar wie ein Geist aus der Glut des verkohlten Waldes auftauchte. Da dachte man, nichts hätte das überleben können, aber die Kuh lief hoch erhobenen Kopfes an uns vorbei, als sei nichts geschehen—ein eindrucksvolles Zeugnis ungebrochenen Lebenswillens.
SANDWICH-EIS UND TRUTHAHN
Auch wenn wir ausreichend Kraftstoffreserven dabei hatten, waren wir froh, die anstrengenden 300 Kilometer von Silver City bis ins Reservat mit nur einer Tankfüllung geschafft zu haben. Zwei Tankstellen, ein kleiner Supermarkt, eine Taverne und die unvermeidlichen Andenkenläden waren der ganze Stolz der 300 Einwohner. Sie leben von Holz, Jagd, Viehzucht und der Forstarbeit. Ein rauer und findiger Menschenschlag, eine eingeschworene Gemeinschaft—und außerdem gut bewaffnet. Das Reservat machte 1994 Schlagzeilen, als der zuständige Rat verfügte: “Ein Gewehr und Munition gehören in jeden Haushalt.” Dieser Aufruf war ihre Antwort auf die Schusswaffen-Kontrollgesetze der Clinton-Administrative. Nur mit einer Tüte voll Sandwich-Eis bewaffnet, zauberte Jeff Clark, der AEV-Pilot, ein Lächeln auf unsere müden Gesichter. Was für ein Schauspiel: stramme Männer nachmittags beim Eisschlecken—vor einer Kulisse dreckiger Wagen.
Ein alter Ford F-100 fuhr auf den Parkplatz—und die Tür wurde aufgestoßen, noch bevor der Wagen zum Stillstand kam. Ein schmächtiger älterer Herr in Cowboy-Hut und -Stiefeln sprang heraus und ging ein paar Schritte auf den Laden zu—als er zweifelnd einen Blick zurück warf. Etwas verlegen senkte ich mein Eis und wartete auf seine Fragen. “Was macht ihr Jungs hier?” Er klang wie Sheriff Taylor, aus der Andy Griffith Show, wenn er seinen Sohn maßregelt, weil der wieder die Sonntagsschule geschwänzt hat, um angeln zu gehen. Ich, immer noch das Eis in der Hand: “Wir kommen von Corner Mountain.” Aus zusammengekniffenen Augen und mit einem Zahnstocher im Mundwinkel schaute er lange auf unsere Trucks. Dann wollte er wissen: “Was hattet ihr da zu suchen?” Also rechtfertigte ich mich, dass ich die Gruppe den Mimbres hinauf, durch die Black Range, über die Mogollons direkt auf diesen Parkplatz geführt hatte. Barsch meinte er: “Nichts gefangen? Bei Cienega hat sich ein Rudel Wölfe breit gemacht. Schwache Beute, eh? Ich seh keine Truthähne in eurem Gepäck.”
Mir fehlten die Worte. Auf der Suche nach Abenteuer definierten wir Erfolg anders: zurückgelegte Kilometer, Zeit, die Straßenverhältnisse, gute Fotos—all das schien nichts zu bedeuten. Locker lehnte er an seinem Pickup, ein Wagen voller Patina und Dellen. Der hatte allein mehr Kilometer Offroad hinter sich, als all unsere Trucks zusammen. “Wir waren nicht jagen. Wir waren im Gelände…zelten”, brachte ich nur hervor. “Huh? Das ist ja wie Angeln ohne Fische fangen”, schmunzelte er und zog von dannen.
SÄGEZÄHNE UND ELCHE
In den nächsten 24 Stunden sollten wir knapp 80 km zurücklegen: Tularosa und die Elk Mountains—das vielleicht anspruchsvollste Gelände der Gila. Tollpatschige Truthühner schlugen wild mit den Flügeln und kraxelten langsam vor uns die Hänge hinauf. Bei dem Anblick konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Fast vergessene Nebenstrecken in den Elks, außerhalb der Jagdsaison kaum befahren, so dass schweres Buschwerk sie überwuchert hatte. Trockene Bachläufe und starke Steigungen mit tiefen Spurrillen bescherten uns Steilwände und zerklüfteten Untergrund. Der Ram sollte vorfahren, die schweren Hindernisse zu beseitigen. Mit Chris an der Kette bieb Kent am Steuer und betätigte die Winde (Drehmoment: 580 Nm). Den Rest rollte die Crew einfach aus dem Weg.
Bei Sonnenuntergang erreichten wir Double Barrel Springs, unser Lager für die Nacht. Einsame Ponderosa-Kiefern auf sanften Höhenrücken, Tularosa und die Mogollon-Berge in der Ferne. Rückenschmerzen von der stumpfsinnigen Sägearbeit ließen uns zusammenrücken. Bei haarsträubenden Geschichten von rekordverdächtigen Bullen und wilden Pumas tranken wir Bier—und eine Flasche Whisky machte die Runde.

EBENE VON SAN AGUSTIN UND ROTHÄUTE
Wir verließen die mühsamen Elk Mountains auf einem unbefestigten Highway Richtung Osten und folgten dem Railroad Canyon flussaufwärts bis auf die Hochebene von San Agustin. Über endloses Grasland, sanfte Klippen und rudimentäres Sedimentgestein, aus vorgeschichtlichen Gewässern von Gletschern und Winden heruntergetragen, hetzten Antilopen nur wenige hundert Meter entfernt an uns vorbei. Sie überholten uns mühelos und querten die Straße. Auf einer sanften Anhöhe überfuhren wir ein letztes Mal die kontinentale Wasserscheide und begannen unseren langen Abstieg durch den Alamosa Canyon zum Rio Grande.
Ausgetrocknete Bachläufe und mit Gestrüpp überwucherte Hügel säumten die Wellblechpiste durch den Canyon. Hinter einer Kurve im Süden erhebt sich eine monolithische Felsformation auf geheiligtem Boden. Aus den heißen Quellen von Ojo Caliente, die mit Tausenden von Litern pro Minute sprudeln, entspringt der Rio La Cañada Alamosa. Die grüne Oase—samt Libellen, Schilf und uralten Pappeln—wird von einem Wasserfall gespeist. Im Schatten dieser Bäume hätte schon Butch Cassidy, in seinen frühen Tagen als Ranchgehilfe, ein Nickerchen machen können.


Jahrhundertelang hatten die Chiricahua-Apachen (auch Chihenne oder Red Paint People) ihren Lebensunterhalt in diesem Canyon friedlich bestritten: mit Jagen, Sammeln und Fischen. Die Ankunft der ersten Europäer brachte Aufruhr und große Veränderung; Land wurde abgesteckt und Grenzen gezogen. Als Mexiko im Jahre 1848 New Mexico an die Vereinigten Statten abtrat, zogen die Grenzbewohner mit der US-Kavallerie gen Westen—die blutigen Indianerkriege erreichten ihren Höhepunkt. Die Apachen-Häuptlinge (Cochise, Geronimo u.a.) verteidigten erbittert ihr geheiligtes Land. Nach drei Jahrzehnten des Kampfes gab Geronimo auf.
Ich hätte mich niemals ergeben dürfen. Ich hätte weiterkämpfen sollen, bis zum letzten Mann. –Geronimo Goyaałé (kòjà:łέ, “einer, der gähnt”).
Als Folge wurde ihre Heimat von der US-amerikanischen Regierung annektiert und die Chiricahua selbst umgesiedelt, manche bis nach Florida. Das Land entlang des Flusses wurde auf die weißen Siedler, Rancher und Farmer verteilt, die Zäune errichteten und Bewässerungsgräben zogen. Heute ist der Canyon nur noch über Wegerechte auf nicht mehr als einer Straßenbreite erreichbar.
So plötzlich, wie die Oase in der Wüste auftauchte, war sie auch wieder verschwunden: Wir waren am Rio Grande. Wahrzeichen der Chihuahua-Wüste, Yuccas und Kreosotbüsche, flankierten die Schotterpiste, die uns zurück in die Zivilisation trug.
Bergab bahnte sich eine schier endlose Reihe reflektierender Windschutzscheiben und Sattelschlepper den Weg ins Tal. Unsere staubige und verschrammte Flotte sah ganz schön wild aus, verglichen mit sechs Tagen zuvor in Silver City. Verschnaufen am Straßenrand: Es fielen nicht viele Worte, aber wir hatten alle ein Grinsen im Gesicht. Der Ram hatte sich besonders gut geschlagen; dank Kents Fahrkünsten war er komplett unversehrt.
Als sich die letzte Gruppe auf der Landstraße hinunter nach Truth or Consequences entfernte, blieb ich allein zurück—und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf Gila: Am Horizont zeichnete sich dunkel die erhabene Silhouette der Berge ab. Unser ca. 600 km langer Kurztrip wurde dem nicht gerecht. Gila steht für unerbittliches Terrain, abwechslungsreiche Landschaften und selbstverständlich die Indianer, welche bereits lange vor uns hier waren: Sie haben das Land respektiert, und im Gegenzug hat das Land sie ernährt. Nicht zu vergessen die legendären Entdecker, die ohne Karten oder Führer auskamen und unsägliche Strapazen ausstanden. Gila—eine Reise lohnt sich, nicht zuletzt wegen der Geschichte.
EMPFEHLUNG AUS DEM REISEFÜHRER
Routen durch den 1,5 Mio. Hektar großen Gila National Forest in New Mexico können über mehr als 400 km führen und mehrere Tage dauern, bevor man Vorräte aufstocken kann und wieder Handy-Empfang hat. Daher ist es wichtig, gut vorbereitet zu sein. Lebensmittel, Wasser und Kraftstoff müssen ausreichen, um ggf. auch ein paar Tage und 150 km mehr als geplant zu überbrücken. Das Reisen in der Gruppe wird dringend angeraten, ebenso ein Satelliten-GPS-Gerät oder -telefon. Das Wasser im Rio Gila ist meist warm und fließt langsam: Es empfiehlt sich, Wasser aus natürlichen Quellen immer zu filtern und zu reinigen. Führen Sie eine gute Handsäge, z.B. von Silky, und Spaltkeile mit, da umgefallene Bäume die Fahrbahnen blockieren können.

Die beste Reisezeit ist Mai bis Oktober, da Schneefälle viele höhergelegene Gebiete ab Herbst bis ins späte Frühjahr unpassierbar machen. Temperaturen im Frühjahr und Sommer können über 40°C klettern und nachts unter Gefrierpunkt fallen. Kleidung und Ausrüstung dem Wetter anpassen. Während der Regenzeit von Juli bis September können tiefe Schlammpisten und Ausspülungen gefährlich werden: d.h. im Vorfeld alternative Routen planen. Machen Sie sich mit der Gegend vertraut, decken Sie sich mit detaillierten Karten ein und erkundigen Sie sich bei den zuständigen US-Forstämtern nach aktueller Wetterlage, gesperrten Routen und möglichen Gefahren auf der Strecke. Lassen Sie im Gila Forest Umsicht walten, Campen ist nur in ausgewiesenen Zonen erlaubt. Schließen Sie Gatter und Zäune nach der Durchfahrt und respektieren Privateigentum.
Anm.d.Red.: Jake Quiñones betreibt New Mexico Black Range, einen staatlich autorisierten Ausrüster und Tourenführer in der Gila-Region.
Quellen
USFS Black Range office
Karten: Gila National Forest Map, ISBN 978-1593512392
Dieser Artikel wurde erstmals in der Sommerausgabe 2016 des Overland Journal Europe veröffentlicht. Text und Bilder: Jake Quiñones


