Tief in der eisigen Schlucht, wo das türkisfarbene Wasser des Zanskar-Flusses in das aufgewühlte Braun des mächtigen Indus fließt, kommt unser kleiner Bus auf der schmalen Hangstraße vor einem Abhang schlingernd zum Stehen. Wir waren zu einem Wintertreck unterwegs, um über den gefrorenen Fluss hinauf das sagenumwobene Zanskar zu erreichen. Tief in den hochgelegenen Tälern des Himalaya versteckt, dort wo Indien, Pakistan und Tibet an die Region Ladakh von Jammu und Kashmir grenzen, liegt dieses wahrscheinlich entlegenste bewohnte Gebiet auf Erden. Aber zunächst weitere Verzögerungen, weitere Straßenarbeiten und verlorene Zeit. Ich schnappte mir die Kamera, sprang aus dem Bus und rannte die Straße entlang um zu erfahren, was uns nun schon wieder den Weg versperrte. Das Atmen in der dünnen kalten Januar-Luft in über 3.000 m Höhe fiel mir schwer. Ein Mann gab Handzeichen anzuhalten. Ein riesiger Kettenbagger grub sich in die Bergwand. Einige junge Männer, manche noch Teenager, warteten, bis sie durchlaufen konnten, um mit bloßen Händen Steine so groß, dass sie sie kaum tragen konnten, zu einem Lkw in der Nähe zu schleppen.
Willkommen im Alltag eines Straßenbauarbeiters im Himalaya: Hier sind über 70.000 Wanderarbeiter aus den ärmsten Gegenden Indiens und Nepals beschäftigt. Sie arbeiten von morgens 5 bis abends 22 Uhr für einen Tagelohn von umgerechnet €2,50. Die Nächte verbringen sie mit bis zu 40 anderen in ausgemusterten Armee-Zelten oder provisorischen Hirtenschuppen an den Felswänden und versuchen so den unerbittlichen Winden und der Kälte zu trotzen.
Zanskar und Ladakh sind das Dach der Welt; wörtlich bedeutet Ladakh “Land der hohen Pässe”. Die Region ist auch wegen ihrer unversehrten buddhistischen Kultur, den antiken Klöstern und der atemberaubenden Landschaft bekannt. Seit 1985 hat sich die indische Regierung als vorangiges Ziel dem Bau und der Instandhaltung von ungefähr 32.000 km der höchsten befahrbaren Straßen der Welt verschrieben. In über 5.000 m Höhe, unter einer erbarmungslosen Sonne und in eisiger Kälte—ein härteres Leben ist kaum vorstellbar. Wenig oder keine Sicherheitsausrüstung, und oft mit der ganzen Familie im Schlepptau, hauen die Arbeiter im wahrsten Sinne des Wortes eine Straße aus dem Berg heraus. Unter Aufsicht von ehemaligen Pioniereinheiten sind die Männer für das Bohren, Sprengen und Führen schwerer Maschinen zuständig. Die jüngeren Männer schaufeln, bewegen Steine, mischen Zement und stellen Asphalt aus brennendem Teer und Kies her. Selbst die Frauen schwingen Vorschlaghämmer, um das Felsgestein zu Schotter zu mahlen, während die Kinder in Staub und Geröll spielen.
Die Jungen lächelten, als ich mir meinen Weg durch den Staub bahnte und fotografierte. Sie ließen sich nicht beeindrucken und posierten sogar stolz. Einige fragten nach Wasser oder Zigaretten. Also schenkte ich ihnen eine Flasche Wasser und eine Packung Kekse. Sie ließen mich den Presslufthammer halten und lachten bei meinem vergeblichen Versuch, die störrische Maschine zu bändigen—noch nicht mal eine Minute hielt ich durch. Dann kündigte unser Fahrer hupend die Weiterfahrt an. Der Weg war gerade breit genug, so dass wir an dem Geröll vorbeikriechen und unsere Reise die Schlucht hinauf fortsetzen konnten. Wir würden unsere Wanderung in dieses sagenumwobene Land beginnen, das nun durch die Nähe zu einem seit langem schwelenden Grenzstreit zwischen Indien und Pakistan um den Siachen-Gletscher bedroht ist.
Beim Vorbeifahren kann man gelegentlich einen Blick auf diese hart arbeitenden Menschen und ihre Familien erhaschen, die sich am Straßenrand abmühen. In der Langeweile der Fernreisen und der Müdigkeit, die sie manchmal begleiten, wird ihnen nicht viel Beachtung geschenkt. Die überwältigende Reizüberflutung bei der Ankunft in Indien, die nicht enden wollenden Verspätungen und die Vorfreude auf das Trekking oder Klettern im größten Gebirge der Erde haben oft Vorrang. Und nach Tausenden von Dollar, die für die persönliche “Erholung” ausgegeben werden, ist es manchmal schwer, die alltägliche Realität für diejenigen zu begreifen, die am Rande der Gesellschaft stehen.
Die Straßenbauer am Zanskar-Fluss leben unter erschwerten Bedingungen. Die für diese Projekte verantwortlichen Behörden rekrutieren Arbeiter aus den armen Grenzgebieten Indiens und Nepals. Sie versprechen ein besseres Leben, aber die Realität erinnert eher an Knechtschaft: für Essen und Unterkunft wird Geld einbehalten.
Dieser Artikel wurde erstmals in der Sommerausgabe 2016 des Overland Journal Europe veröffentlicht. Autor: Ace Kvale